Keine Geschichte

Die Geschichte ist erzählt. ‚Die Geschichte ist erzählt‘ ist der Inhalt der Geschichte und das, was man Gehalt nennt. Eine Leere voller Nichts. Die ganze Geschichte ist zu Ende. Mehr lässt sich von ihr nicht erzählen. „Erzählen“ schon gleich gar nicht. Berichten, mitteilen kann man davon auch nichts. Nacherzählen? Ja, vielleicht. Vielleicht derjenige, der es versteht, die Schmucklosigkeit des Nichts auszuschmücken. Man kann weder berichten noch nacherzählen, dass diese Geschichte eine besondere Geschichte ist, die – sagen wir – längst schon als nicht existierende Geschichte erzählt wurde, zwar von keinem, der Geschichten erzählt und auch von keinem, der überhaupt niemals Geschichten je erzählen wird, also, kurz gesagt, von niemandem, weil wozu? Wozu eine Geschichte erzählen, die von nichts handelt? Auch noch eine Geschichte, die längst erzählt ist und in der nichts, rein gar nichts geschieht? Das sollte zu denken geben und das sollte man auf keinen Fall auch dem besten Erzähler zumuten, etwas nachzuerzählen, was längst erzählt worden ist, indem bereits ein abgrundtiefes Schweigen als das alles bestimmende Thema alle Hoffnung, dass damit etwas erzählt werden würde, zerstört, und es sich daher gleich schon gar nicht lohnt, noch einmal erzählt zu werden. Jedenfalls oder doch eher unwahrscheinlich: Wenn es die Geschichte überhaupt je gegeben hätte, würde sie bestimmt von keinem Tier handeln. Zwar eine reine Spekulation, eine sinnlose Mutmaßung, von der man ausgehen kann, dass wenn sie stimmte, es völlig gleichgültig wäre, um welches Tier es sich handeln würde. Eher schon von einem Menschen. Menschen erzählen das Sinnlose fast immer entlang eines Menschenschicksals. Das Nichterzählbare eines Menschenschicksals, so ist zu vermuten, könnte das Erzählenswerteste aller Erzählkunst sein. Ich könnte jetzt also im Schwunge des Hineingeworfenseins ins nimmersatte Fabulieren rätselhafterweise dieses sinnlose Schicksal eines Menschen, von dem es nichts zu erzählen gibt, doch einmal etwas genauer – wie sagt man so schön (?)... – ‚unter die Lupe nehmen‘. Dieser Mensch unter der Lupe würde sich entpuppen, besser entlarven oder sich enttarnen als ein, ... ich fantasiere jetzt mehrere Möglichkeiten..., als ein Idiot, als ein Krüppel, als ein Papst, als... ein Lebenskünstler. Eigenartig. Ein Lebenskünstler?! Nun ja, zu sein und gleichzeitig nie gewesen zu sein. Ein Zauberer. Ein Zauberer seiner selbst. Sich verzaubern zu können als ein niemals je Gewesener. Einfach nur nicht zu sein, um ein braves Leben zu führen, das nicht geführt werden kann, weil man nicht ist. Ein Mensch also, vermutlich all seiner Sinne schwachsinnig mächtig, darüber hinaus von Herkunft und Wuchs schmächtig und... unabstreitbar eine Last für seine Umgebung. Eine Zumutung für den nichtexistierenden Wald, für die nichtexistierende Schweinezucht... eine Belastung für eine hereinbrechende Nacht. Zum Glück lebt dieser Mensch, vom Schicksal gebeutelt, mutterseelenallein in einem noch nicht einmal verlassenen Dorf, weil in diesem Dorf logischerweise nie jemals zuvor irgendwer jemals gewohnt hat. Durch dieses Dorf also, um die Geschichte nicht immer wieder zu unterbrechen, führt eine Straße, die den Namen ‚Dorfstraße‘ trägt wie eine kaum zu stemmende Last, und auf der einmal am Tag der Bus durchfährt, ohne jemals an der Haltestelle, von der es in diesem Dorf wenigstens fünf gibt, angehalten zu haben. Denn niemals stieg in diesem Dorf jemals ein Mensch aus dem Bus. Auch kam es bis zum heutigen Tag nicht vor, dass jemals irgend ein Mensch jemals im Bus neben oder hinter dem Busfahrer saß. Und sicher kann man auch nicht sein, ob es überhaupt einen Busfahrer in diesem Bus je gegeben hat. Jedenfalls kann man davon ausgehen, dass der Bus einmal am Tag ganz hart und knapp und laut an diesem einen Haus, dem einzigen des Dorfes, vorbeigerast kommt. Stinkig und rücksichtslos. Dieses Haus ist das Haus dieses Menschen, vom dem die Geschichte handelt, nein, nicht handelt, sondern handeln könnte, wenn es je diese Geschichte überhaupt zu erzählen gäbe. Und das Haus steht, das scheint sicher zu sein, am Ortsende. Es könnte genauso gut in der Ortsmitte stehen oder das erste Haus des Altenteils des namenlosen Dorfes sein. Zentral und unübersehbar, da es nur dieses Haus in diesem von Gottes Dienerschaft zwar gesegneten, jedoch längst fluchtartig verlassenen Dorfes gibt.

Obschon es nichts weiter zu erzählen gibt, will ich fortfahren:

Zwei Beschäftigungen, wenn man es so zu bezeichnen wünscht, denen dieser Mensch täglich nachgeht, werden von diesem Menschen, der eher eine Frau sein könnte, aber dennoch wahrscheinlicher oder ziemlich sicher ein Mann ist, mit makelloser Gewissenhaftigkeit ausgeübt. Dieser Mann schafft eine ewige Ordnung gleich der Ordnung von Gottes Werk, um diese Ordnung infolge ihrer ungeheuren Folgerichtigkeit alsbald wieder ins folgenlose Chaos zu bringen. Dies geschieht infolge eines triebgesteuerten Hanges, vielleicht besser: infolge zweier grenzenloser Leidenschaften, die wie eine quälende Sucht, wie zwei unbesiegbare Laster tief und bohrend in des Mannes ansonsten knochiger und frigider Seele rumoren: Denn er säubert, vielmehr schabt rabiat mit bloßen Händen und ohne Wasser den ganzen Tag über den verheerenden Schmutz im Innern des Hauses, also Wände, Kacheln, Fenster, Fensterrahmen und alle die im Haus befindlichen Gegenstände geradezu mit klinischer Perfektion hinweg, um alles, sobald es Nacht wird, mit aller Schonungslosigkeit zurückzuführen in jenen vormaligen unbegreiflichen Dreck, damit dieses verschmutzte Inventar dann in ein allgefälliges Chaos unbeherrscht, nein, vielmehr und eher kontrolliert gewissenlos gestürzt wird, in ein Chaos, welches ihn sodann mit grenzenloser Befriedigung beglückt und jenes ersehnte wonnige Klima schafft, das ihn in den seligen Schlaf trägt, aus dem er erst wieder mit Hereinbrechen des Tageslichts herausbricht, um die Verwüstungen in allen seinen Räumen, von denen es insgesamt eigentlich nur einen gibt, mit Fleiß, Geduld und angespanntester Konzentration rückzuverwandeln in jenen vorherigen aseptischen Zustand, den die andere Hälfte seiner von Leidenschaft durchbohrten Seele begierig ersehnt. Sehnsucht ist das Wort, das im Körper dieses im Hause vegetierenden Mannes flackert wie das grelle Gezucke eines in diesem Dorf niemals je einschlagenden Blitzes, der – um einen anderen völlig blindlings absurden Vergleich wachzurufen – kurz nach dem Gekreische des in seiner Vorstellung krähenden Hahns gleich dem Heer von Nattern im Nest seiner Gemütspumpe aufzischt. Sehnsucht als die dickflüssige Soße, die in dieses Menschen Leib durch Adern und Arterien gepresst wird.

Mehr gibt es nicht zu erzählen. Ja alles, was bisher erzählt worden ist, stimmt und stimmt nicht. Jedenfalls wäre das Ergebnis, die Geschichte nicht erzählt zu haben, völlig gleich darin, sie bis zu diesem Punkt in allen Einzelheiten, was heißt Einzelheiten, richtiger: in groben Zügen geschildert zu haben. Also, alles wäre bereits gesagt worden, wenn nicht dieses eine... diese ausnahmsweise noch erwähnenswerte Sache, vielleicht nicht Sache, eher wohl Tatsache oder künstlich hervorfantasierte Sinnlosigkeit ihre Berechtigung erstritten hätte. Die ich vergessen habe, vielleicht aus einer Schwäche heraus, aus alberner Gedankenlosigkeit. Die zu erzählen mir aber wichtig erscheint. Denn eigenartigerweise gibt es zwar dieses Dorf und auch dieses eine Haus nicht, auch fährt noch immer täglich der Bus durch die Dorfstraße, ohne jemals an jener einen von fünf Haltestellen angehalten zu haben, aber das Innere des Hauses..., und jeder, der mir zuhört, wird verstehen, warum diese Nebensächlichkeit zwar völlig abstrus und sinnlos und dennoch wichtig ist, ... die sogenannte Inneneinrichtung, das Ambiente im harmonischen Einklang mit dem niemals je existierenden Dorf besteht eben nicht aus Gemächern und Treppenhaus und Keller und Dachstock, Küche, Bad und Vorratskammer, nein, sondern aus nur einem einzigen, mehr oder weniger winzigen Raum. Einem einzigen Raum! Der nicht größer ist als eine Rumpelkammer. Und in dieser Rumpelkammer gibt es nichts als ein Bett und einen dicht am Bett stehenden, mit sechzehn leeren Schubladen aufgeteilten Schrank, einen zwischen Bett und Schrank hineingequetschten rechteckigen Tisch und schließlich noch einen Stuhl, der überhaupt nur Platz findet, wenn er entweder auf dem Tisch oder auf dem Bett platziert wird. Und Staub. Durch das Fenster kann man tagsüber ins Innere sehen, weil es am Fenster keine Vorhänge gibt. Und man sieht alles ordentlich an seinem Platz. Und wenn man nachts durch das Fenster schauen könnte, was durchaus möglich wäre, aber weil es in diesem Raum kein elektrisches Licht und auch keine Kerze gibt, sähe man nichts, man ahnte es nur und im Ahnen würde man das Chaos sehen, einen wild im Raum verschobenen Tisch, einen umgefallenen Stuhl, ein umgekipptes Bett, und der leere Schrank hätte alle seine Türen und Schubladen weit geöffnet wie ein vielköpfiges Tier mit weit heraushängenden Zungen.

Man sähe den Mann, getrieben vom Trieb seiner Begierde, jeden dieser hölzernen Gegenstände wieder und wieder und von Neuem immer wieder an andere Stellen des winzigen Raumes hin und her verschieben. Hier und da fiele ein Tropfen Schweiß auf den alles bedeckenden Staub, um einen winzigen Brei zu formen, der im Laufe der Tage sich abbilden würde als ein winziger Vulkan inmitten von Staubunendlichkeit.

Wenn man es genauer bedenkt, ist diese Geschichte nicht die Geschichte, die bereits erzählt ist, sondern es ist die Geschichte, die nicht zu erzählen ist, weil sie sich nie je ereignet hat, schon ereignet, aber von niemandem erlebt und daher nicht erzählbar. Ich will sie dennoch zu Ende erzählen.

Auch würde dieser Mensch in diesem Einhausdorf, wenn überhaupt, längst tot sein. Vielleicht lägen dann auf dem Bett, also eher auf der madenzerfressenen Matratze seine weißen Knochen wohlgeformt zu einem Gerippe. Und das sogenannte Deckbett kniete förmlich am Ende des Bettes als eine weiße Nonne ohne gefaltete Hände, aber mit einer wulstigen Haube, nämlich als das weiße und doch so staubige Leinentuch um den Daunendeckenzipfel gewickelt. Vielleicht aber nur. Jedoch auch dieser Mensch würde, von dem nichts erzählt werden kann, logischerweise auch keinen einzigen Knochen besitzen, keine seiner beiden unersättlichen Leidenschaften austoben können; und die Diener Gottes, die einzige wahrhaftige Realität in dieser menschenleeren Gegend, zumal sie einem Wunder glichen in menschenleerer Zeit, liefen ins Haus mit ihren schmucken Priesterhemden, mit steifem, durch den Piuskragen hochgereckten Hals, um die Leiche dieses Menschen zu segnen. Und der Segen mit all seinem geweihten Wasser, das weitere winzige Vulkane im endlosen Meer des Staubes bilden würde, wäre das einzig gesprochene Wort im Dorf, das nicht ist und niemals zuvor je war. Aber auch diese Diener – die wie die Krähen im Verbund nicht fliegend, sondern kriechend immerfort auf der Suche wären nach diesem niemals je gewesenen Menschen, und Kraft ihres Suchens unendlich große Hingabe entwickelten, die zwar nicht vorhandene Leiche, dennoch als eine nur im Knochenkostüm darniederliegende, für alle Priesteraugen jedoch niemals leibhaftig erscheinende Menschenseele zu segnen – als sich selbst von Gott auserwählte Menschensucher in schwarzem Gewand und schweres Kreuz auf ihrer Brust tragend, würde es nicht gegeben haben. Nichts würde es geben. Noch nicht einmal den Hauch einer nachzuerzählenden Geschichte. Das Einzige, was bliebe und es schon davor seit Ewigkeit gegeben hätte, wäre und ist die allmächtige Uhr mit ihrem Donnerschlag, der so ungeheuerlich laut gegen die unendlich große Glocke anschlüge, dass jedermann, auch dieser Mensch, vom Sog des Getöns zermalmt werden müsste. Man sähe die Priesterschar in ihrem eschatologischen Jubel und durch und durch befriedigt in ihrer sogenannten Heilserwartung, die kein langes Warten, sondern vielmehr ein Bruchteilwarten wäre, da ja nun auch sie von der Wucht des Schalls sogleich zerstäuben müssten in unendlich feinen Priestergries, der alsbald niederregnete und die Erde schwärzte. Dann würde ich noch nicht einmal je gewusst haben können und niemals je gewusst haben, dass es einen Versuch hätte wert gewesen sein können, diese Geschichte zu erzählen.

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