"Biographie"

Was ist Biographie?

Der begrenzte Zwischenraum, angefüllt mit Zeit von der Geburt bis zum Tod?! Womöglich ein bemerkenswert langer Aufenthalt, zumal der Zeitraum vor der Geburt dagegen kurz erscheint, diese Brutzeit eines Erstlingsgeschöpfs mit der Bezeichnung Mensch?! Ein womöglich bemerkenswert kurzer, da der Zeitraum danach, durch die Gabe des mit Furcht vor dem Tod geschmückten Grübelns bekräftigt, als ein ewig langer gedacht wird? Dieses Ungeheuerliche mit den beklemmenden Maskierungen ewiger Tod oder paradiesische Ewigkeit! Weder von diesem Davor noch von dem Danach gibt es wissenschaftlich begründbar eindeutige Klarheit. Mit der Arroganz des Affirmativen indes weiß man über das gelebte Leben zumindest eine Menge Details. Denn alles, an das man sich erinnert, scheint durch die Erinnerung bewiesen zu sein. Baustoff, Bauwerk, Schutt und Zersetzung einer biographischen Tatsache.

Was aber hat es an sich, diese biologischen Erschütterungen in Stein zu ritzen, auf Papier zu kritzeln, sie in bunten Farben zu malen, damit daraus eine respektable Lebensgeschichte wird? Und: zu welchem Zweck?

Der Blick auf die Eiswand Existenz, um mit kühlem Verstand zu fragen, was das ist, ein eigenes, von anderen Leben unterscheidbares Leben? Hat man eine Biographie, wie man Fieber oder Hunger hat? Kann man krank oder satt von ihr werden? Wer ist es, der behauptet oder beansprucht, dass seine Biographie unter Milliarden anderen Biographien wert und würdig sei, aus der Haut der Weltgeschichte herausgedrückt zu werden? Biographie als Furunkel, als alberne Anekdote im vermüllten Raum individueller Selbstdarstellungen?

Bei Sichtung virulenter Website-Biographien oder Vitae besteht das Da-Sein aus punktuellen Episoden, die, wie beim Rosenkranz, als Perlen des Lebens aneinandergereiht sind und sich heruntermonologisieren lassen.

Knapp in Sprache und Form, als Chronologie eines eigenen Daseins, aufgefüllt mit Daten, Ausbildungsstationen, mit Werken, mit Influencern und Förderern, betet sie, die Biographie, ruhmreiche und bedeutungslose Ereignisse herunter. Mengen von Tätigkeiten, angereichert durch Belobigungen, Preislisten, Erfolgen weisen mehr von einem ausgeprägt individuellen, eigenen Leben weg als auf es hin. Biographie als Ballast? Wer trägt und prägt da wen, das Biographische den Menschen oder der Mensch seine Touren, Torturen, Sümpfe oder Trümpfe? Wozu sich im Wettstreit auf dem Gebiet des Biographischen messen lassen, wenn man der einzig Wissbegierige ist, der auf das Selbsterlebte kontrollierend schaut?! Schleicht sich hier nicht klammheimlich das Gespenst der Eitelkeit als ein alle Details detailversessen prüfender fleischgewordener Biographien-Atlas hinein, der seine geschulterte, weltschwere Biographie entweder selbst verfasst, der sie zu schreiben auffordert oder der dem Verfassten zustimmt, sobald er befreit von Freiheit, eingespannt durch Verlag oder sonstige Bindung dazu verpflichtet ist?!

Ist man im Dasein, im Dabeigewesensein oder im Vermengtsein mit anderen Biographien inmitten seiner eigenen Lebensetappen nicht gleichzeitig abwesend, nicht da, unbeteiligt, unbewusst? Gelenkt durch Außeneinfluss, Zufall, Schicksal, Notwendigkeit, damit man ja nicht erkennen muss, wer man ist?!

Biographie, soviel habe ich verstanden, macht das Ich zum Anwesenden in fiktiver Welt. In realer Welt muss es, parallel dazu, das reale Leben zwangsläufig leben, um das fiktive damit aufzuladen. Die aufgeladene Banalität des Daseins wird bereichert, indem man sie dokumentiert, um sich zu dokumentieren. Website-Biographie ist also das Dokument, das sich durch Beweiskraft einer Ersatz-Existenz legitimiert.

Ihr Eigenleben wirkt und drückt sich durch Daten, Fakten, Ereignisse, Besonderheiten, aber auch durch ein Konglomerat aus Unwichtigem, Erfundenem und Ersehntem in die Textkörper anderer Website-Biographien hinein. Anwesendsein in der realen Welt, dokumentiert durch statistische, durch unbeholfene oder raffinierte Selbstversicherung eines eigenen Daseins..., das ist Biographie. Eine Vervielfältigung des Immergleichen, weltgewandt, weltbewusst. Als Beweis eines Existierens, ausweisberechtigend und staatsbereichernd. Als ein verfügbar Anwesendes, verfügbar für die Interessen anderer, die sie für sich selbst wiederum nutzbringend verwenden, instrumentalisieren oder bei günstiger Dominanz triumphierend vernichten.

Unter solcher Pein und Peinlichkeit möchte man nie geboren sein.

Entlang zweier Beispiele ließe sich Biographie ironisieren und pervertieren, zwei kuriose Exempel, die so wahr wie erfunden sein könnten: Auf eine noch nicht vollendete Biographie eines Mitteleuropäers könnte ein Kenianer genauso zufällig stoßen, wie ein Mitteleuropäer auf die Biographie eines Tataren. Während für den Mitteleuropäer Ziegenstall, Ziegenmilchproduktion und Holzknappheit infolge verheerender Waldbrände zugegebenermaßen wenig relevant, für den Tataren jedoch existenziell und daher nennenswert sind, erhofft sich der Eurozentristische von der Lektüre seiner Biographie durch den Kenianer dessen schürfende Auseinandersetzung mit seiner mitteleuropäischen Existenz. So peinlich und peinigend dieses Ungleichgewicht eines Ich-zentrierten Bewusstseins ist, so sinnlos und absurd ist Biographie, wenn sie ohne zwischenmenschliche Anteilnahme, ohne Bezug zum Schicksal eines Mitmenschen als andauernd Verfügbares verfügbar sein will.

Spätestens hier entlarvt sich Selbstbiographie als Infantilität. Als Nullwert für alles Wertvolle der Welt.

Website-Biographie als Ersatz real gelebten Lebens ist ein Placebo der Selbstverunsicherung, ein Parasit der Arroganz, eine Belastung des Netzes. Energieverschwendung. Maßlosigkeit. Anderes fällt mir dazu nicht ein, wenn ich mir vor Augen führe, jeder Erdbewohner hätte sich, bestärkt durch seine Wichtigkeit oder von Gesetzes wegen gezwungen dazu, in den digitalen Foren unter allen Individuen als Individuum auszuweisen. Die Vorstellung von jenem Unikum, das solcherart Biographie verweigerte und sich darauf besänne, Biographie nur zu leben, ohne sie rekapitulierend zu chronologisieren, diese Vorstellung erscheint mir momentan, beim Verfassen dieser Biographie, als Befreiungsschlag gegen den infernalischen Widerspruch meines eigenen Handelns – als eine womöglich nur mickrige Melodie inmitten wild gewordener Clusterkaskaden. Im ungeheuerlichen Lärm, in welchem die Postulate der Einzelleben massenhaft eingespeist und aufgesaugt werden, um dann tief aus dem Magen der Weltwahrheit, im Reflux des Clusterklangs als individueller, einzigartig flatternder Sinuston ausgespuckt zu werden, käme Mensch als ein darin nicht Vorkommender tatsächlich wieder vor. Als das unbeschriebene beschreibbare Blatt.

Ja, diese eschatologische Erfindung ist mir näher, so nahe wie meine Neigung, buchstabieren zu dürfen, welche der Werke, die ich mit Inbrunst, mit der mir verfügbaren Klugheit, mit Verstand und tollkühner Raserei, ja voller Schmerzen geschrieben habe, bis zum heutigen Tag noch nie zur Aufführung gelangten, also das schöne, herrliche Licht der Welt des Theaters und der Musik nie je als geblendetes, blendendes erleben konnten. Geschaffenes, das kraft seines Existierens auf vollgeschriebenen Blättern und trotz seines Aufgelistetseins im Biographienbuch ewig bedeutungslos für die Bewohner des Planeten Erde sein wird, solange es ist, ohne zu sein. Die Umstände dieses unwesentlichen Sagens, Entsagens oder Versagens empfinde ich als erhellende Motive, welche Leben und meinetwegen Biographie zusammenfügen zu schicksalshaften, schicksalslosen, zufälligen, gelenkten individualistischen Katastrophen, gleich einem realen, ausschließlich für einen selbst bestimmten Theater, in welchem man selbst mordet und ermordet wird, liebt und hasst, stinkt und kostümiert die Welt begeht. Begehrt.

Was tun, damit etwas bleibt von dem, was eine eigene Biographie simuliert?!

Gegen alle gemachten Erfahrungen, gegen die eigene Erkenntnis aufzutrumpfen, indem man sich biographisch eingliedert in den Unendlichkeitsbiographismus?

Oder egomanisch die eigene Bedeutung zu behaupten, die von einer künstlich herbeiphantasierten, auftrumpfenden Konkurrenz verdrängt, missachtet, verjagt und zerstört wird? Oder Beispiele von hochgefeierten Zelebritäten herauszufiltern, die, ihres Geheimnisses beraubt, sich als banal herausstellen, um dann zufrieden mit der eigenen Demut entgegenzustellen, wer man glücklicherweise nicht ist?!

 

Was ist Biographie nicht?

I.
Es fiel mir im zehnten Lebensjahr zu, mit dem mir zugewiesenen Instrument Violoncello zuerst nur leere Saiten zu streichen. Später kam Komplizierteres hinzu. Nicht das Instrument selbst, viele Kompositionen haben mir das Violoncellospiel beigebracht. Nie jedoch wurde daraus ein Beruf. Da Dichtung für mich in jener Ursuppe der Waldorfbewegung, in Stuttgart unterhalb der Uhlandshöhe, erstmals nur in klassenchorischen Gemeinschaftsrezitationen oder durch die pathetischen Dramatisierungen eurythmischer Szenarien bewusst gemacht wurde, war die Entdeckung eines Gedichtbandes Friedrich Hölderlins im mütterlichen Bücherschrank eine optische Sensation. Dieser Überfall von schräg auf einer Buchseite sich ausbreitenden Vierzeilern ins Auge hat mich nie mehr losgelassen und zum Nachahmen solcher Zeilen, zu denen man ‚Verse‘ sagte, lebenslang animiert. Alles, was durch diesen optischen Schock entstanden ist, liegt im abgeschlossenen Schlafsaal meiner Bibliothek. Und Theatralisches. Manches davon mit Musik, die ich imitiert, geraubt, collagiert habe zum Zwecke der Emotionalisierung von Bühnengeschehnissen, eine Musik, die keine Chance je gehabt, aber auch keine Lust verspürt hat, eine zu haben im Revier der avancierten sogenannten Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Theater, Theater mit Musik, Theater über Musik, Theater ohne Musik, Musik als Theater. Kammermusiktheater, Theater mit Musik in einer Kammer, Theater für einen winzigen Raum, für eine Miniaturbühne. Musiktheater für einen einzigen Zuschauer, dargestellt durch einen einzigen schauspielernden Musiker oder musizierenden Schauspieler. Theaterstücke, die von Instrumentalisten handeln. Theaterstücke, in denen es ohne Musik um Musik geht, um musikalische Karrieren, um ver-rückt gewordene musikalische Existenzen. In denen es nie um Kunst geht, sondern um künstliche, kunstschaffende Menschen, um Kunst-Monster. Deren Existenz außerhalb ihrer Kunst mit mickriger Exorbitanz, asozialer Brutalität und kleinbürgerlicher Banalität unreflektiert ausgelebt wird. Musiktheater also mit dem Blick des "Dummkopfs" auf die gescheiten "Kunstmacher".

II.
Ich habe gelernt, behilflich zu sein. Nicht aus Wohltätigkeitsgefühlen oder Ermahnungen heraus. Kehrwoche war ein klarer Fall. Mit Detailverbissenheit und heiterster Adrenalinausschüttung ausgeführt. Permeable Wellen des Schwäbischen, die abzuwehren ich bis heute stetig übe, haben mich bereits im Kreiss-Saal des Charlottenhauses zu Stuttgart umzingelt. Gewiss: Unwichtiges für die Kräftigung eigener Bedeutsamkeit. Unwichtiges im Leben sind Elektroschocks eines selbst zu verantwortenden Lebens. Für Biographisches von Wert. Details also, die machen, dass man der Selbstbewunderung gerne zum Opfer fällt. Ein Beispiel: Auf dem Gebiet der Gattung Kartoffel habe ich mir einen Namen gemacht: Kartoffel-Peter. Vielleicht durch meine Spezialisierung auf Bratkartoffeln. Meine berühmten, durch zerlassene Butter und durch geschmälzte Schalotten saftig durchtränkten, zuvor auf das Maß eines Zentimeters roh geschnittenen, stundenlang in kaltem Wasser gewässerten, dadurch von Stärke befreiten, erst im Backofen auf 120 Grad im Luftwirbel sorgsam angebräunten, sodann von allen geschmacksverstärkenden Komponenten total befreiten, in einer heißen oliven-buttergefetteten Pfanne knusprig gebratenen Kartoffeln sind zweifellos mit der Stringenz einer späten Beethovensonate vergleichbar.

III.
Ich habe keine besonderen Vorlieben für Haustiere. Lieber käme ich auf den Hund, als einen zu haben. Apropos Tierliebe. Häufiger war ich als Junge im Aussiedlerhof meiner nahen Verwandten, meist in den Sommerferien. Im Nachbaraussiedlerhof wimmelte es vor Katzen und diese brachten in jenem Sommer, den ich nie vergessen werde, wenigstens vierzig junge Kätzchen zur Welt. Die dortige Bäuerin war hart und gefühllos. Sie befahl mir mit köstlichen Versprechungen, mitzuhelfen, das Gewusel der eben erst geborenen Kätzchen zu reduzieren. Und sie erklärte mir, wie. Weder bin ich ein Tierhasser noch ein Massenmörder. Aber an jenem Tag, als ich fünf der niedlichen Tiere mehrmals gegen die Scheunenwand knallte, bis sich nichts mehr rührte, erkannte ich den Sieg des Tötens über das Gewissen. Obschon es eine biographische Banalität ist, bleibt der Stachel des Nichtbegreifens eigenen Tuns bis heute in meinem Selbstbild stecken. Für jeden Tierschutzverein des 21. Jahrhunderts ist meine Tat unverzeihlich. Aus der Perspektive des Zusammenhangs von früher Kindheit und Grausamkeit erhellen sich aber die Momente der Hemmungslosigkeit. Man ist trotz Hölderlin und Brahmssonate, trotz 'Lyrischer Suite' und 'Lichtzwang' Opfer und Täter zugleich, wenn wie besinnungslos an den Wesen der Tiere stellvertretend Rache zelebriert wird. Was an die Scheune geschmettert wird, sind die erinnerten Schläge auf nackte Haut durch die Erzieher. Solche Ereignisse im Leben sind der Reflexion wert. Viel mehr als der Vergleich der einen mit der anderen Kurzgeschichte, viel schwerer und eindrücklicher als die konvulsive Gebärde einer Selbsterschütterung, mit der einen manche eigene Erschaffung von Geschichten, Bühnenspielen oder das Zelebrieren von Komponiertem befreundeter Künstler am Schopfe packte. Nichts ist unwesentlich. Dennoch: Das Bedeutende für die Außen- oder Mitwelt ist – wie schon gesagt – Wichtigtuerei, gemessen an meiner schrecklichen, niemals zu vergessenden, ins Herz schneidenden Tat. Mit ihr denunziere ich mein Ansehen. Aber sie ist wahr und wahrhaftig scheußlich. So scheußlich, wie das Aushaltenmüssen eines ersten Platzes bei Wettbewerben der Kunst. Solche Siege sind immer verbunden mit der Niederlage anderer. Sieger sind die Schöpfer der Verlierer. Krieg ist immer.

IV.
Bekenntnisse in Liebesdingen hätten in Biographie einen elitären Platz verdient. Zwar scheut sich der Leser, vor allem, wenn er ein naher Freund ist, vor solcherlei schambefreiten Bekenntnissen, aber – dieses ‚aber‘ ist weder aus Verlegenheit gesetzt noch strategisch gemeint – sie gehören, wenn schon eigenes Herumschnüffeln im eigenen Leben dem Autobiographischen eigen sein soll, dazu. Ich will sie nicht ausschmücken. Die Beteiligten an fairen und unfairen Trennungen werden mir gewogen sein, wenn ich sie nicht namentlich nenne. An den rauen Wänden des Verliebtseins, im Netz der Bindungen und Beziehungen habe ich mich vielmals wund gerieben. Die Bilder der Wand und des Netzes sprechen aus, dass nicht die Wand oder das Netz sich an mich heran- und an mir entlangschabte, sondern ich mich an ihnen. Der Täter der Verwundungen anderer war ich, ohne zu bemerken, dass die Wunden und die Risse auf meiner Oberfläche viel zahlreicher waren als auf denen der Wände und Netze. Wunden als traumatische Fesseln aus früher Kindheit. Selbstverletzungen, Imitate, eingeübt und studiert bei den schmerzgepeinigten Eltern, die sich selbst quälten, indem sie ihre Kinder quälten. Frühe Verletzungen, die unter die Haut gingen, die in der Pubertät Brücken herbeizwangen, von denen man sich herunterfallen lassen wollte im Augenblick des heranrasenden Zuges oder des stinkenden Lkws, habe ich als Geschenke erlebt. Wobei der Verursacher als Schenkender erst erkannt werden konnte, nachdem das ungewollt Verursachte wie erlittenes Leid durch die Löcher der Zeit abgeflossen war. Leben ist nicht nur leben oder ausleben wollen. Leben bedeutet auch ableben in doppeltem Sinn. Im Ableben wird etwas abgelegt. Das Heruntergelebte fällt ab wie der Kokon der Raupe. Abgetrennt von der weiteren Ungewissheit der immer auch spontan ausgewählten Lebensspur. Das Fertige muss nicht als Produkt eigener Leistung in die Betriebsamkeiten der anderen einfließen, sie beeinflussen, stören oder verstören. Das Fertige, Ausgelebte, Herausgelebte, Abgeschlossene – wenn es denn jemals als abgeschlossen bezeichnet werden kann – , hat seine Zeit. Wahre Biographien sind selbst zu verantwortende Folgen eines vor dem Leben längst schon gelebten Lebens.

V.
Wer seine künstlerischen Taten versteckt, verheimlicht, sie nicht der Welt anvertraut, obschon diese sich mit ihnen befassen will, sie womöglich erfasst, auch hasst, sei feige. Solche Weisheiten versperren zäh den Blick auf eine andere Sicht. Wenn Tugend sei, das Sagen zu wagen, ist Schweigen vor der Verachtung gleichfalls Tugend. Verantwortung für das sagenhafte Werk indes bleibt immer am Sagenden haften. Der Dichter, der Komponist verantwortet sein Werk. Sein Werk ist nicht er selbst. Deshalb sind Werk und Werker zweierlei, unverbunden, eigenexistierend zu jeweils gegebener Zeit. Das unveröffentlichte Werk veröffentlicht sich selbst durch die Bedingungen der Zeit. Vielleicht stirbt es, bevor sein Kreator stirbt. Vielleicht stirbt er, bevor es auflebt. Vielleicht aber sterben beide gemeinsam und alle angesammelte Biographie wird zu einem leeren Topf. Wer möchte schon Biographie erfahren von einem Künstler, der sich seines Künstlertums berechtigt glaubt und dennoch nie je ein Künstler war? Dennoch wird die Tatsache seines wirkungslosen Wirkens im Gedächtnis ewigkeitsverfluchter digitaler Speicherleiber, sogenannter "Heimseitengedächtnisse", eingeschrieben bleiben. Als nicht löschbares, herausoperierbares Faktum aus den Organen, Adern und Muskelsträngen der Informationsunendlichkeit. Eines unter -zig Milliarden Fakten, das dank seiner Auffindbarkeit verschwindet.

VI.
Unter dem Aspekt einer reinkarnierenden, sich wieder und wieder etablierenden Existenz auf diesem Planeten könnte sich Biographie nicht nur wiederholen, sondern ebenso gut erweitern, aufladen, verlängern. Biographie als Fortsetzungsexistenz. Entwicklung als stetige Erkenntniserweiterung. Logischerweise wären die Aufenthaltsorte vor dem Geborenwerden und nach dem Gestorbensein dann keine Bagatellen, randvoll mit Fragezeichen und Vertröstungen durch allerlei sektiererische oder religiöse Spekulation, sondern Realität. In Raum und Zeit, im stofflichen Realraum, den dieser Planet als Grundbedingung des Lebens anbietet, ist der nicht stoffliche Raum, das Vor dem Planetenleben und das Danach, gefangen und befangen durch unseren Mangel an lebensgrundierender und daher erkenntnisbereichernder natürlicher Spiritualität, irreal. Nicht weniger irreal und absurd als ein sinnlos gelebtes Leben mit umfassender Biographie, das mit dem Tod nur noch Bedeutung für die jeweils übriggebliebenen Überlebenden auf diesem Planeten oder auf diesen Planeten Hineingeborenen haben soll?!

Für mich ist Biographie ohne solche Perspektive nicht denkbar. Mit dem Blick auf die erweiterte Existenz – als ein SEIN, das sich selbst über das Planetenleben hinaus selbstverantwortlich Wissen über die Zusammenhänge des SEINS erwirbt – verändert sich die gelebte und die zu lebende Notwendigkeit auf der Erde entscheidend. Die Bedeutung eines gelebten Lebens, kondensiert in der Biographie, verschwindet hinter der Bedeutung eines Gesamtseins. Denn nicht auszuschließen wäre, dass eine Existenz mit dem Anrecht auf ein SEIN bereits mehrere Erdenleben bestanden, überstanden hat, dass sich also neben der ersten digitalen Biographie längst schon geschriebene oder ungeschriebene Biographien angehäuft haben, die sich nicht aufwiegen lassen...

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